Der Kapp-Putsch und die Morde von Mechterstädt
Der Kapp-Putsch im März 1920 brachte das Deutsche Reich an den Rand eines Bürgerkrieges und zwang die Reichsregierung zur Flucht aus Berlin. Die meisten Putschisten waren aktive oder ehemalige Angehörige der Reichswehr. Der Putsch richtete sich gegen die SPD-geführte Regierung, die die Annahme des Versailler Vertrages durchgesetzt hatte. Das hieß u.a.: Neuorganisation und Umbau der Reichswehr auf die Stärke von 100.000 Mann; Auflösung der Freiwilligen- und Wehrverbände, sogenannter Freikorps; Entwaffnung der Bevölkerung; Auslieferung der Kriegsverbrecher und Beginn der Reparationsleistungen. Bei Zuwiderhandlungen drohte die Besetzung des Reiches. Zudem war die Frage der Grenzen des Reiches im Osten noch nicht geklärt. Große Teile des Offizierskorps der Reichswehr und die Angehörigen der paramilitärischen und rechtsorientierten Verbände wollten das nicht hinnehmen. Diese Haltung fand auch in weiten Teilen der Bevölkerung Unterstützung. In der Nacht vom 12. auf den 13. März 1920 marschierten meuternde Offiziere unter dem Kommando des kurz zuvor abgesetzten Generals von Lüttwitz mit ihren Truppen auf Berlin. Viele Soldaten trugen als Ausdruck ihrer völkischen Gesinnung ein weiß gemaltes Hakenkreuz am Helm. Die meuternden Truppen proklamierten den ostpreußischen Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp als Reichskanzler. Am Vormittag des 13. März riefen SPD und Gewerkschaften zum Generalstreik gegen die Putschisten auf. In Thüringen, Sachsen und im Ruhrgebiet versuchten linksgerichtete Gruppen, den Generalstreik als "proletarische Revolution" voranzutreiben.
Schon
nach wenigen Tagen scheiterte der Putsch. Dennoch wurde er in vielen
Teilen des Reiches, so auch in Thüringen, Anlass blutiger Kämpfe.
Die Spannung stieg, als sich der "rote Ring" um Erfurt
immer enger zog. Diesen „spartakistischen Banden“ das Handwerk zu
legen, zog ein eilends zusammengestelltes Zeitfreiwilligenkorps mit
Studenten der Marburger Universität von Hessen aus ins Land - das
StuKoMa (Studentenkorps Marburg). Für die Studenten waren die
Arbeiter ein „rotes Tuch“. Sie wollte man das Fürchten lehren.
Die angehenden vorwiegend Mediziner, Juristen und Theologen des Korps
fanden aber nur noch wenig Aufruhr in Thüringen vor. In Thal bei
Ruhla aber sollte sich nach Aussagen des dortigen Schultheißen und
des Gendarmen eine „rote Garde“ gebildet haben, die zum Kampf für
eine Räterepublik aufgerufen hätte. Dort verhaftete das StuKoMa am
24. März 40 Männer, die sich in den Wirren der Putsch-Tage zu einer
Arbeiterwehr zusammengeschlossen und Schusswaffen in Kälberfeld,
Schönau, Kahlenberg, Sättelstädt und Sondra beschlagnahmt hatten.
Bei diesen Streifzügen soll auch so manche Wurst aus einer
Speisekammer unfreiwillig die Proviantbüchsen der „Spartakisten“
gefüllt haben. Diese Aussagen reichten dem StuKoMa für hartes
Durchgreifen. Der Tatbestand von Aufruhr und Landfriedensbruch war
erfüllt! Nach einer in Bad Thal erstellten Liste nahm man die Männer
fest. Unter ihnen wurden 15 ausgewählt, darunter vier Gemeinderäte,
die auf einem großen Leiterwagen Richtung Gotha abtransportiert
wurden - eskortiert von den martialisch mit Feldgepäck ausgerüsteten
Marburgern, deren Fahrzeuge Totenköpfe zierten. In Sättelstädt
schloss man die Männer über Nacht ins Spritzenhaus ein, angeblich,
um sie vor der Wut der Einwohner von Sättelstädt zu schützen. Dass
in der dortigen Schule am Abend ein Standgericht von Offizieren
abgehalten wurde, bei dem man den Tod der Gefangenen beschloss, wurde
später vor Gericht bestritten. Auch ein Zechgelage im Sättelstädter
Gasthaus „Zum Adler“ an jenem Abend sei unwahr.
Am Morgen des
25. März, zwischen 5 und 6 Uhr, brach ein Kommando im dichten Nebel
Richtung Gotha auf. Die Gefangenen mussten in Gruppen zu zweien oder
dreien gehen. Ihnen sei mehrfach gesagt worden, dass bei jedem
Fluchtversuch geschossen werde, hieß es später vor Gericht.
Was dann wirklich geschah, ist bis heute im Nebel der Jahre verborgen.
Tatsache ist: Nicht einer der 15 Gefangenen kam in Gotha an. Alle wurden auf der Chaussee nach Gotha erschossen. Einen ersten Toten gab es bereits nahe des alten Bahnhofes, kurz hinter Sättelstädt, die letzten lagen auf dem Feld, das unmittelbar an das heutige Denkmal in Mechterstädt angrenzt. Fast alle Erschossenen hatten bis zur Unkenntlichkeit zertrümmerte Schädel, was auf Nahschüsse verwies. Bei Karl Hornschuh, dem ersten „auf der Flucht erschossenen“ Toten, wurde ein „Herzschuss von vorn“ als Todesursache festgestellt.
Die Toten seien einfach liegengelassen worden, die „Marburger Jäger“ wären weitergezogen.
Die
Kunde von den Schüssen in Mechterstädt machte 1920 schnell die
Runde. Verfahren gegen die Mitglieder des StuKoMa waren deshalb nicht
zu verhindern. In zwei spektakulären Gerichtsverhandlungen wurden 14
angeklagte Schützen einmal von einem Kriegsgericht und dann von
einem Schwurgericht frei gesprochen. Nicht einer von ihnen hat sich
je öffentlich zum Geschehen geäußert. Vertreter des Marburger
Corps Hasso-Nassovia nehmen an, dass sich die Schützen an ein
„Ehrenwort“ gebunden hatten, wie das in Verbünden wie
Burschenschaften oftmals bis heute Kodex ist.
Bis in die
Gegenwart ist deshalb der Ruf nach dem Recht aktuell, der aus
Mechterstädt laut wurde. Während in Thal bereits in der Zeit der
Weimarer Republik eine Gedenktafel angebracht wurde, wurde der
Gedenkstein an der B 7 erst 1953 errichtet. Er soll nicht nur an die
Toten erinnern, die in Thal begraben liegen, sondern er fordert
gleichermaßen Aufklärung und den fairen Umgang mit Andersdenkenden,
wie das in einer Demokratie üblich ist.
Nach der Wende ist das gemeindeeigene Denkmal zunächst vernachlässigt worden, das bis dahin von Schulkindern gepflegt wurde.
In
den neunziger Jahren besuchten Mitglieder des Marburger Corps
Hasso-Nassovia Mechterstädt und hinterließen bei den
Gemeindevertretern einen Sonderdruck, den sie 70 Jahre nach den
Ereignissen zusammengestellt hatten. Darin heißt es u.a. im Kapitel
„Unsere Stellungnahme“:
„Es gilt: In dubio pro reis. Dieser
Grundsatz enthebt uns andererseits nicht von der Verpflichtung, uns
der Möglichkeit zu stellen, dass es auch anders gewesen sein kann.“
Betrauert werden die Opfer. „Dies gilt selbst dann, wenn sie die
ihnen zur Last gelegten Taten - nämlich Aufruhr und
Landfriedensbruch - tatsächlich begangen haben. Im letzten Satz des
Lehren-Kapitels heißt es: „Wir, die wir wie einige der Schützen
dem Corps Hasso-Nassovia angehören, haben aus den Ereignissen die
Lehre zu ziehen, dass Intoleranz gegenüber Andersdenkenden und
Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung die künftige
Geschichte nicht mehr beherrschen dürfen.“
Heute wird das Denkmal innerhalb des Projektes „Demokratisch handeln“ erneut von einer Schulklasse betreut. Hin und wieder besuchen Studenten der Rechtswissenschaften den an der Straße verborgenen Stein. Gelegentlich findet sich dort ein Strauß frischer Blumen - man weiß nicht, von wem.
Im Verlauf des Putsches kamen in Deutschland etwa 2.000 Zivilisten, vor allem Arbeiter, ums Leben. Ungefähr 200 Personen wurden standrechtlich erschossen. In Erfurt forderten die Ereignisse acht Tote und 79 teils schwer Verletzte. In Weimar fielen eine Arbeiterin und acht Arbeiter den Kämpfen zum Opfer. Ihnen zu Ehren errichtete der Architekt und Direktor des Weimarer Bauhauses, Walter Gropius, im Auftrag des Weimarer Gewerkschaftskartells ein Denkmal, das am 1. Mai 1922 enthüllt, 1936 zerstört und 1946 leicht verändert wieder errichtet wurde. Das Denkmal sollte ursprünglich aus Kalkstein erbaut werden. Finanzielle Gründe veranlassten Gropius, den Entwurf 1921 in mehreren Schritten zu modifizieren, bis schließlich eine betonspezifische Form entstand. Die mit dem künstlichen Material Beton verbundenen Bedeutungsebenen von Neuheit, Aufbruch, Innovation und Fortschritt, von Kollektiv und gesellschaftlicher Reform unterstützten die politische Aussage des eruptiven Blitzes entscheidend, der aus dem Grab der beim Putsch getöteten Arbeiter nach oben drängt.
Angesichts der vorgeblichen Flucht der Gefangenen aus Thal „mit der Front gegen den verfolgenden Schützen“ machte sich der Dichter Kurt Tucholsky in seinem „Marburger Studentenlied“ lustig.
Marburger Studentenlied
Stimmt
an mit hellem, hohem Klang,
stimmt an das Lied der Lieder!
Des
Vaterlandes Hochgesang,
das Waldtal hallt ihn wi–hi–der!
Der
alten Barden Kriegsgericht,
dem Kriegsgericht der Treue –
wir
wissen, du verknackst uns nicht –
dir weihn wir uns aufs Neue!
Wir
fingen fuffzehn von dem Pack,
das unser Preußen schädigt.
Es
war ein schöner Märzentag.
Wir haben sie erledigt.
Sie
sind von uns erschossen worn.
Doch ganz in Recht und Züchten.
Zwar
sitzen ihre Wunden vorn ...
Man kann auch rückwärts flüchten.
Wir
wissen jeden krummen Weg.
Uns kann man nicht erweichen.
Der
Mediziner im Kolleg
braucht Leichen, Leichen, Leichen!
Uns
tut kein deutscher Richter nichts
und auch kein Staatsanwalte.
Die
Schranken unsres Kriegsgerichts
der liebe Gott erhalte!
Zur
Ahnentugend wir uns weihn,
zum Schutze deiner Hütten!
Wir
lieben deutsches Fröhlichsein
und echte deutsche Sitten!
Ad
exercitium executionis parati estisne?
Sumus!
(Theobald
Tiger
Die Weltbühne, 08.07.1920, Nr. 28, S. 55).